Gott und Corona
Gedanken zur Theologie in der Pandemie von Pastor Michael Ebener
Ein überstreckter Finger zeigt stumm auf die Wunden des Gekreuzigten – so stellt Matthias Grünewald auf dem Isenheimer Altar das Mitleiden Gottes dar. Johannes der Täufer weist die Elenden und Kranken, die im Antoniterspital in Isenheim siechen, auf den Einen hin, der all ihr Leid am eigenen Leibe trug und endlich überwand – der einer der ihren ist! Das ist der einzige Trost, den es zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts bei einer Seuche geben kann. Und mehr als diesen Fingerzeig auf den mitleidenden Gott gibt es im Grunde auch heute zum Thema theologisch verantwortbar kaum zu sagen. Kein Wunder also, dass kirchliche Verlautbarungen zur theologischen Deutung des Pandemiegeschehens fast völlig fehlen – außer vielleicht dem stets wiederholten Hinweis, dass das Einhalten der allseits bekannten AHA-Regeln auch ein Gebot der Nächstenliebe sei.
Gott und Corona haben nichts miteinander zu tun. Punkt. Nicht nur Viren können sich exponentiell vermehren, auch das Wissen um die Entstehung von Krankheiten, die Verbreitung von Erregern und die Möglichkeiten der infektiologischen Bekämpfung ist im Vergleich zu früheren Zeiten exponentiell gestiegen. Wir wissen heute vor allem sehr viel besser, was wir alles nicht wissen. Und dennoch kann die Wissenschaft das Krankheitsgeschehen so viel besser erklären, als die Theologie es je konnte – und sollte.
Auch ein Virus mag ein Bestandteil der Schöpfung sein. Einen Sinn bekommt es dadurch trotzdem nicht. Wenn Gott am Ende der biblischen Schöpfungsberichte feststellt, dies alles sei nun „sehr gut“, dann ist das keine moralische Kategorie. Alles, was geworden ist, dient auf irgendeine Weise dem Leben, aber das Chaos, das Naturkräfte anrichten können, ist nur oberflächlich gebändigt – allzumal dann, wenn Menschen meinen, sie hätten die Sache im Griff. Ein Virus ist eine natürliche Erscheinung, genauso wie zum Beispiel Bakterien welche sind. Manche nützen, manche schaden, aber das ist weder Viren noch Bakterien als Verdienst oder Vergehen anzurechnen – „gut“ oder „böse“ sind sie deshalb nicht. Sie sind einfach da. Es gibt keine Himmelsmacht, die Viren, Vulkanausbrüche oder vergleichbare Naturereignisse als pädagogisches Mittel zur Erziehung der Menschen einsetzt. Auf dieser Line ist die Theologie, oft nicht ohne Tiefsinn und durchaus im Einklang mit zahlreichen biblischen Schriften, über Jahrhunderte mit Seuchen und Naturkatastrophen umgegangen. Das Übel, das den Menschen in chaotischen Naturereignissen widerfuhr, musste doch irgendeinen verborgenen oder offensichtlichen Sinn haben. Da Gott gut ist, setzt er das Böse nicht willkürlich ein – wenn es uns trifft, dann bestimmt als „Strafe“, zumindest als „Heimsuchung“ oder als „Prüfung“. Wer über diese Vorstellungen entrüstet den Kopf schüttelt, möge sich in Erinnerung rufen, welch läuternde Effekte in den letzten Monaten auch dem Coronavirus zugestanden wurden – und zwar ohne jeden Bezug auf Gott! Wer erwartet, dass wir nach der Pandemie irgendwie bessere Menschen wären, denkt im Grunde auf einer uralten Linie von „Strafe“, „Heimsuchung“ und „Prüfung“. Selbst wenn man nur von der „Coronakrise“ spricht, ist dieses Denken latent vorhanden. Im griechischen Ursprung bedeutet „Krise“ Gericht, Urteil und Strafe. Was für ein himmelschreiend ungerechter Mechanismus wäre da am Werk, wenn die ganze Welt nun bewusst dafür gerichtet, geurteilt und gestraft würde, dass auf einem chinesischen Nassmarkt ein Virus vom Tier auf den Menschen übergesprungen ist, das sich dann infolge der Globalisierung rasend schnell über den ganzen Globus verbreitet hat? Was keinen zielgerichteten Sinn hat, kann auch keinen zielgerichteten Effekt hervorrufen!
Das heißt aber natürlich nicht, dass wir aus den Erfahrungen der letzten Monate im Persönlichen und Gesellschaftlichen nichts lernen dürften – Gottes guter Geist kann uns durchaus helfen, dass auch aus diesen vielen schmerzlichen Erfahrungen etwas Gutes entsteht. Unsere Vergänglichkeit, die Gefährdung und Kostbarkeit des Lebens sind uns von Neuem deutlich geworden. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen“, weiß schon der Psalm und setzt hinzu: „Auf dass wir klug werden.“ An dieser Klugheit hat es uns in den westlichen Industrieländern dank all der medizinischen Fortschritte, die wir – und oft nur wir! – genießen durften, in den letzten Jahrzehnten zusehends gemangelt. Wir haben ebenfalls erst jetzt so richtig begriffen, wie alles mit allem zusammenhängt und dass wir nur ein kleiner Ausschnitt eines sehr viel Größeren sind. Auch wenn es aktuell Abschottungen und Grenzziehungen gibt, sind wir doch aufeinander angewiesen. Das Virus führt uns brutal vor Augen, dass die Volkswirtschaften vieler Nationen mittlerweile so eng miteinander verbunden sind, dass es den Menschen in einem Land nicht gut gehen kann, wenn die Menschen im anderen Land sterben. Wenn in China keine Medikamente produziert werden können, dann sterben auch in Deutschland Kranke. Wir sind gemeinsam verletzlich. Aber der Zugang zu medizinischer Versorgung und frischem Wasser, den Möglichkeiten, das Leben nach den Hygiene- und Abstandsregeln einzurichten, sind auf unserem Planeten eklatant ungerecht verteilt. Werden wir die richtigen Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen ziehen, wenn sich Globalisierung wieder ungestörter im Sinne einer hemmungslosen Gewinnmaximierung verstehen lässt? Das ist eine offene Frage, die niemanden von uns aus der persönlichen Verantwortung entlässt.
Wer über Gott und Corona nachdenkt, wird demütig vor den eigenen Möglichkeiten, so etwas im Grunde Unfassbares in Worte zu fassen. Die Theologie kann und braucht in Sachen Corona nicht noch einmal erklären, was die Wissenschaft oft schon kaum oder nur langsam vortastend erklären kann. Theologie dient in einem anderen Sinn der Erkenntnis unserer Welt und damit dem, was letztlich alle wissenschaftlichen Disziplinen wollen. Erkenntnisgewinn ist in unseren Zeiten mehr denn je ein Gemeinschaftsprojekt! Als Theologe habe ich nur meine eigene Quelle, die Bibel, deren Erkenntnisse ich in einen gemeinsamen Lernprozess einbringen kann. Die Schriften der biblischen Überlieferung sind dabei überhaupt keine Hilfe bei der Erklärung infektiologischer Zusammenhänge. Sehr wohl aber bieten sie zahlreiche Hinweise darauf, wie Menschen in einer Herausforderung reagieren, die ihre Selbstgewissheit erschüttert. Solange diese Pandemie nun andauert, kann ich mich kaum erinnern, je einmal den für den entsprechenden Sonntag vorgeschlagenen Predigttext gewählt zu haben. Ich wähle von Woche zu Woche ganz frei, meist nur geleitet von dem, was aktuell aufbricht, und die Schrift wird für mich neu und aufregend sprechend. Im Horizont biblischer Worte und Erzählungen gewinne ich einen klareren Blick auf die Ängste, Sehnsüchte und Verhaltensweisen der Menschen damals – und damit auch der Menschen heute. Dieser Effekt stellt sich immer ein, wenn wir uns mit der Bibel beschäftigen, schließlich bündelt dieses Buch Jahrtausende Menschheitserfahrung mit Gott und der Welt. Doch unter Corona weitet sich unser Herz für das Murren des Volkes Israels in seiner vierzigjährigen Wüstenwanderung noch einmal besonders. Wir verstehen auf einmal viel besser, warum die Frauen am Ostermorgen voller Furcht vom Grab wegrennen. Und die leibhaftige Begegnung mit seinen Freundinnen und Freunden, die der Apostel Paulus im Gefängnis so sehr missen muss, wird für uns zum Spiegel eigener Erfahrungen von verschobenen Besuchen und aufgesparten Berührungen. Wenn ich mir all dies vor Augen halte und in der Predigt mit der Gemeinde teile, werde ich auf eine sehr eigentümliche und dennoch wohltuende Weise ruhig in diesen unruhigen Zeiten.
Gott und Corona haben ursächlich nichts miteinander zu tun. Wegbeten können wir das Virus nicht und Medikamente und Impfstoffe werden nicht vom Himmel fallen. Der Fingerzeig, dass Gott mitleidet und Leid deshalb nie das Letzte sein wird, was uns widerfährt, dazu die Erkenntnis, dass Gott sich in seinem Wort tief in unser angefochtenes Dasein eingeschrieben hat – dies beides kann uns auch jetzt tragen! Darüber hinaus hat Dietrich Bonhoeffer im Nachdenken über die Herausforderrungen seiner Zeit „Einige Glaubenssätze über das Walten Gottes in der Geschichte“ formuliert, in die wir uns vielleicht auch in unserer Gegenwart gut einfinden können: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Schicksal ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“