"Eltern-Sein in Krisen-Zeiten" -
von Christine Schlockwerder,
Dipl. Psychologin und Kinder- und Jugendpsychotherapeutin


Liebe Eltern,
wie geht es Ihnen wohl gerade? Wir alle erleben gerade eine außergewöhnliche Situation, die niemand sich vorher hätte vorstellen können. Unser gewohnter Alltag und der Ihrer Kinder haben sich radikal verändert. Viele Menschen, bestimmt auch viele Kinder, sind durch die Maßnahmen zur Kontrolle der weltweiten Pandemie verunsichert und fühlen sich vielleicht verängstigt oder bedroht. Sie als Eltern sind diejenigen, die entscheidend zum Sicherheitsgefühl und zum Wohlergehen Ihrer Kinder beitragen können. Das kann aber schwierig sein, wenn man gerade selber plötzlich vor ganz neuen Herausforderungen steht. Krisen bringen alles durcheinander, man muss sich neu aufstellen, alle Kräfte sammeln und viele Anstrengungen unternehmen, um die Situation zu überstehen und Lösungen zu finden. Gefühlen von Überforderung, Hilflosigkeit und Kontrollverlust kommen da häufig vor und sind normale Reaktionen auf eine unnormale Situation. Im nachfolgenden finden Sie einige Anregungen und hoffentlich hilfreiche Gedanken und Vorschläge zum Thema „Eltern-sein in Zeiten der Pandemie“.

Umgang mit Ängsten, Sorgen und Grübeln
Kinder und Erwachsene brauchen Sicherheit und Orientierung.
Alle haben im Moment Fragen rund um die aktuelle Situation. Das ist normal. Wir Menschen sind nicht so gut darin, mit Unklarheit und Unsicherheit umzugehen. Dann beginnen die Gedanken zu kreisen, wir fangen an zu grübeln und uns Sorgen zu machen. Manchmal raubt uns das den Schlaf. Kinder können sich noch nicht vorstellen, was ein Virus ist und woher es kommt. Sie fragen sich, ob sie selber oder ihre Familie davon betroffen sind, haben Angst, dass die Eltern sterben könnten, wollen wissen woher die Krankheit kommt oder warum die Großeltern nicht besucht werden sollen und sie nicht auf den Spielplatz, in die KiTa oder zum Turnen dürfen.…
Wir alle stellen viele Fragen, weil Informationen uns Sicherheit geben.
Seien Sie für die Fragen und Sorgen ihres Kindes aufmerksam und nehmen Sie sich Zeit, sie sachlich und kindgerecht zu beantworten. Klare, dem Alter angepasste Informationen verringern Grübeln und Sorgen und wirken Ängsten entgegen. Eine gute Idee kann es z.B. sein, mit älteren Kindern zusammen die Kindernachrichten im Fernsehen zu schauen. In den öffentlich rechtlichen Medien werden Kinder derzeit sehr gut und angemessen informiert. Von zum Teil beunruhigenden Informationen aus dem Fernsehen oder dem Internet, die Kinder nicht einordnen können, sollten Sie ihr Kind sorgfältig beschützen.
Nehmen sie die Fragen ernst, begrenzen Sie aber, wenn nötig, das Thema „Corona“, damit es nicht übermächtig wird. Manchmal tut es auch gut, die Aufmerksamkeit ganz gezielt auf etwas anderes zu lenken und sich mit etwas Schönem, Entspannendem oder Beruhigendem zu beschäftigen.

Den Alltag gestalten
Die KiTa ist ein Ort, der dem Leben Ihrer Kinder klare Orientierung und Struktur gibt, die jetzt fehlt. Sicherheit und Geborgenheit sind aber in Zeiten, in denen wir uns unsicher fühlen, ganz besonders wichtig.
Geben Sie ihrem Kind Sicherheit, indem sie die Kita-freie-Zeit gemeinsam planen. Erhalten Sie so viel Normalität, wie möglich, zum Beispiel, indem Sie ihre gewohnten Schlafens- und Aufstehzeiten beibehalten und gemeinsam regelmäßige Mahlzeiten einnehmen. Entwerfen Sie mit ihren Kindern zusammen einen Tagesplan, an den sich alle halten. Lassen Sie ihre Kinder gleichberechtigt Vorschläge machen. Planen Sie Ruhe- und Aktivitätsphasen ein. Verteilen Sie die Pflichten und kleine Aufgaben. Aufgaben zu übernehmen kann Kindern das gute Gefühl geben, wichtig zu sein! Wenn Sie von zu Hause aus arbeiten müssen: Stellen Sie hier keine zu hohen Ansprüche an sich selber und ihre Kinder. Kinder können es nur schwer begreifen, warum sie keine Zeit haben, obwohl sie doch „da“ sind. Ein bisschen zu schaffen, reicht im Moment aus.
Strukturieren Sie die Medienzeiten ihrer Kinder. Treffen Sie hierfür klare Absprachen. Es ist viel weniger anstrengend, einmal den Unmut der Kinder auf sich zu ziehen, wenn Sie die Medienzeit begrenzen, als alle 10 Minuten wieder handy- oder Computerverbot aussprechen zu müssen, weil ihr Kind immer wieder fragt. Kinder brauchen hier ganz klare Regeln. Wenn sie wissen, woran sie sind, fällt es ihnen leichter, in Ruhe etwas anderes zu spielen. Planen Sie Medien- und auch gemeinsame Spielzeiten als wichtigen „Programmpunkt“ mit ein.
Wenn Sie zusammen eine gute Tagesstruktur gestaltet haben, bleibt weniger Zeit für Sorgen und Grübeleien, ebenso für Langeweile. Den gemeinsam erarbeiteten „Stunden-Plan“ können Sie für alle sichtbar an die Wand hängen. Auch für die Großen ist es eine Herausforderung, sich an die gemeinsamen Regeln zu halten.

Zusammen sein
Eines der wichtigsten psychischen Grundbedürfnisse des Menschen ist das nach sicheren, stabilen, guten Beziehungen. Für Kinder ist es ganz besonders wichtig, dass sie den Großen vertrauen und sich angenommen und geliebt fühlen können. Viele Kinder sind durch das Kontaktverbot zu vertrauten Personen oder Spielkameraden sehr verunsichert. Sie reagieren vielleicht traurig oder auch schlecht gelaunt, gelangweilt, zappelig oder „frech“. Bei Manchen zeigt sich ihr Unwohlsein auch durch Bauchweh oder sie können schlechter einschlafen. Auch das sind normale Reaktionen auf eine unnormale Situation. Kinder leben im Hier und jetzt, haben noch kein Gefühl für Zeit und können sich nicht so gut vorstellen, dass es auch bald schon wieder anders sein wird.
Seien Sie als Eltern ansprechbar und emotional erreichbar für ihr Kind, indem Sie ihm zuhören, Verständnis zeigen und seine Bedürfnisse beachten. Halten Sie zusammen und geben ihrem Kind das Gefühl: „Wir sind bedingungslos für Dich da, wir freuen uns über gemeinsame Zeit mit Dir.“
Nicht nur ihren Kindern fehlen im Moment die Freunde und Freundinnen, auch für Sie fallen die täglichen Kontakte zu anderen erwachsenen Personen außerhalb der Familie weg. Das kann belastend sein. Sie fühlen sich vielleicht abgehängt, gelangweilt, unruhig oder gereizt. Leider ist man dann auch viel schneller vom Partner oder den Kindern genervt und wird vielleicht schneller ungeduldig oder wütend. Das ist normal und viele Eltern erleben das so.
Wenn Sie alleinerziehend sind, sind Sie in dieser Situation die einzige erwachsene Interaktionsperson für ihre Kinder, haben aber umgekehrt selber vielleicht gerade keinen Ansprechpartner. Das kann schnell zu großem Ärger, vielleicht auch zu Wut und Frustration führen. Wir alle, Erwachsene und Kinder, brauchen Kontakt. Suchen Sie sich Unterstützer*innen, um sich in schwierigen Situationen gegenseitig beizustehen!
Im Moment können sie Kontakt zu wichtigen Bezugspersonen in Ihrem Umfeld nur durch Telefon und social media aufrechterhalten, aber es gibt verschiedene Applikationen für Handy, Tablet oder PC, die es Ihnen ermöglichen, Freunde und Bekannte auch von zu Hause aus virtuell zu treffen – selbst in einer größeren Runde. Auch Ihre Kinder können so Kontakt zu anderen Kindern oder Oma und Opa aufnehmen und sich zwischendurch einmal mit Freunden und Freundinnen unterhalten.Halten Sie zusammen, indem Sie sich mit anderen Eltern, Nachbarn und Freunden austauschen und sich gegenseitig unterstützen.

Umgang mit Krisen
Wenn man plötzlich viel mehr Zeit als sonst gemeinsam verbringt gibt es wahrscheinlich auch Streit und Konflikte. Es kann hilfreich sein, davon auszugehen, dass das passieren wird und sich darauf einzustellen. Finden Sie heraus, was Ihnen in der aktuellen Situation guttut und was Ihnen konkret helfen könnte, um in Balance zu bleiben. Kinder können auch schon überlegen, was ihnen hilft, wenn sie wütend, traurig oder gereizt sind, um sich zu beruhigen oder damit es ihnen besser geht. Sprechen Sie darüber. So helfen Sie sich selbst und auch Ihrem Kind, Ihre Gefühle und Ihr Handeln besser zu verstehen.
Wenn Sie in Partnerschaft leben, können Sie gemeinsam überlegen, wie Sie als Paar die Situation für sich nutzen können: Wie können Sie sich gegenseitig am besten unterstützen und wo brauchen Sie auch einmal Ihre Ruhe? Auch hier ist jetzt viel Geduld und gegenseitiges Wohlwollen gefragt.
Setzen Sie Prioritäten: Vielleicht gelingt es Ihnen, schwierige Situationen zu bewältigen, indem Sie einmal durchatmen und erst reagieren, wenn Sie sich beruhigt haben. Vielleicht ist es möglich, Zank und Streitereien, die nicht allzu wichtig sind, einfach einmal zu vertagen? Was nicht so wichtig war erledigt sich dann manchmal wie von selber. Auf jeden Fall sind Sie nun gefasster und können wichtige Dinge viel besser ansprechen und Konflikte besser klären.

Als Eltern in Balance bleiben, aber wie?
Je ausgeglichener wir sind, desto ruhiger können wir kritische Situationen in der Erziehung meistern. Aber manchmal reicht ein Tropfen, um „das Fass zum überlaufen“ zu bringen und wir reagieren auf Verhalten unserer Kinder unangemessen genervt, schreien, meckern oder werden ungerecht.
Machen Sie sich bewusst: Das Verhalten meines Kindes ist meist nichtdie Ursache dafür, dass ich „aus dem Ruder laufe“ und das Fass zum überlaufen kommt. Das Verhalten des Kindes nur der Anlass für meinen Ärger. Vielleicht hilft diese Sichtweise, ein bisschen Abstand zu bekommen. Je besser Sie sich um die eigene Verfassung kümmern, desto leichter fällt es Ihnen, besonnen und verantwortungsvoll zu reagieren. Nehmen sie Ihre eigenen Gefühle ebenso mitfühlend ernst, wie die Ihres Kindes.
Scheuen Sie sich nicht, sich in Krisensituationen an professionelle Berater zu wenden. Bei Fragen rund um den Familienalltag kann Sie die Erziehungsberatungsstelle gut unterstützen. Gerade wenn Sie sich in zusätzlich sehr belasteten Verhältnissen wiederfinden, beispielsweise auf sehr geringem Wohnraum miteinander leben müssen, Existenzsorgen haben, weil Ihr Arbeitsplatz bedroht ist oder es innerhalb Ihrer Familie in der Vergangenheit oder aktuell zu Gewalt gekommen ist, ist es sehr gut, wenn Sie Hilfe und Unterstützung in Anspruch nehmen. Auch wenn Sie sich vielleicht gerade sehr vom Rest der Welt abgeschnitten fühlen, so gibt es dennoch auch jetzt viele Möglichkeiten, Hilfe zu erhalten.
Eine gute Adresse ist zum Beispiel die online-Beratung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (BKE). Hier stehen professionelle Menschen für die Unterstützung von Eltern zur Verfügung. Telefonisch kann man Informationen und Beratung auch bei der Telefonseelsorge bekommen, die auch weitere Hilfen nennen können.
https://www.nummergegenkummer.de/
https://www.bke.de/?SID=059-398-B25-BA8

Sport und Bewegung
Kinder wie Erwachsene brauchen Bewegung! Sich im Körper wohl zu fühlen ist wichtig für die psychische Gesundheit. Bewegung und Sport reduzieren Stress, helfen gegen Langeweile, machen Spaß, vermindern Sorgen und können gegen Depressionen schützen. Wer Möglichkeiten hat, draußen zu sein oder sich in der Natur aufzuhalten, sollte diese nutzen. Auch in der Wohnung kann man sich einiges einfallen lassen. Erinnern Sie sich an die eigene Kindheit: Spielen Sie Verstecken oder machen Sie Gymnastik. Denken Sie sich beispielsweise kleine Geschicklichkeitsspiele aus. Einige Sportclubs oder auch Videoplattformen bieten online beinahe täglich neue Mitmachangebote für Kinder und Erwachsene an. Was unserem Körper und unserer Seele auch gut tut: Das Lieblingsessen zubereiten, ein Bad nehmen, einen Purzelbaum machen, eine „Bude“ bauen, in die man ich zurückziehen kann, es sich gemütlich machen, in der Sonne sitzen, genügend schlafen, ein Buch lesen oder die Lieblingsmusik hören.

Spiel und Spaß
So ernst die Lage auch sein mag: Niemandem nutzt es, dauerhaft Trübsal zu blasen. Bemühen Sie sich, sich selbst und Ihrem Kind Zuversicht und Hoffnung zu vermitteln. Suchen Sie nach Möglichkeiten und Quellen von Freude und Genuss. Der Alltag birgt viele Möglichkeiten, selbst oder gemeinsam etwas zu tun, was Freude bereiten kann. Nutzen Sie die positiven Seiten der Lage. Überlegen Sie was man alles zu Hause unternehmen kann. Backen Sie z.B. Kuchen oder spielen Sie Gesellschaftsspiele. Zeigen Sie Interesse für das, was Ihr Kind/Ihre Kinder tun. Das vermittelt ihrem Kind einerseits, wie wichtig es Ihnen ist, andererseits haben Sie auch einen Eindruck, womit ihr Kind beschäftigt ist. Lassen Sie es damit möglichst nicht allein.

Etwas Sinnvolles tun, Engagement
Alle Maßnahmen, die unsere Bewegungsfreiheit einschränken, dienen dem Schutz von besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Das ist eine positive gemeinschaftliche Aktivität unserer Gesellschaft. Es tut gut, für andere da zu sein, etwas tun zu können, worin wir einen Sinn sehen und das uns das Gefühl gibt, wichtig zu sein. Das schafft Vertrauen und Zuversicht. Sich mit anderen positiv verbunden zu fühlen stärkt unser psychisches Wohlbefinden. Sprechen Sie in Ihrer Familie darüber und teilen sie diesen positiven Gemeinschaftssinn miteinander. Vielleicht können Sie auch zusammen helfen: Haben Sie ältere oder kranke Nachbarn, für die Sie mit ihrem Kind einkaufen können? Möchte Ihr Kind vielleicht für Oma ein Bild malen? Gibt es etwas wofür Sie sich jetzt besonders einsetzen können? Gemeinsame Werte machen uns stark und stärken gleichzeitig das Selbstbewusstsein Ihres Kindes und das Gemeinschaftsgefühl Ihrer Familie.

Auch aus schlimmen Situationen kann manchmal etwas Gutes entstehen und aus Krisen können sich Möglichkeiten ergeben, auf die man ohne sie vielleicht nie gekommen wäre!

Mit herzlichen Grüßen und besten Wünschen für Sie und Ihre Familien,
Christine Schlockwerder
Dipl.-Psychologin
Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin