1882: Gründung der "evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover"
Die Gründung der "evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover" im Jahre 1882 spiegelt das Verhältnis von Staat und Kirche zur damaligen Zeit. Denn es ist nicht so, dass sich die Kirchengemeinden einfach zu einem Gesamtgebilde selber zusammen schließen konnten, sondern es ist der damalige deutsche Kaiser und König von Preußen, Wilhelm I., der am 12. April 1882 einen "Allerhöchsten Erlaß" bekanntgibt, und zwar "kraft der Mir als Träger des landesherrlichen Kirchenregiments zustehenden Befugnisse", wie es im Erlaß heißt. Der König ist Oberhaupt der Kirche und deshalb befugt, Ordnungen und Gesetze für die Kirchen in seinem Herrschaftsgebiet zu erlassen. Und in diesem Erlaß bekundet Wilhelm I., dass eine vorher auf einer außerordentlichen Synode beschlossene "Kirchengemeinde- und Synodalordnung" in Kraft gesetzt wird.
a) Reformierte Kirchen unter lutherischer Hoheit
Wie kommt es dazu, dass gerade 1882 die "Evangelisch-reformirte Kirche der Provinz Hannover" gegründet wurde? Dazu ist es nötig, auf den Wiener Kongreß im Jahre 1814/1815 zurückzublicken, weil dort eine Neuordnung Europas beschlossen wurde: Hannover wird zum Königreich erklärt und zahlreiche vorher teilweise selbständige, teilweise zu anderen Herrschaften gehörende Gebiete werden an Hannover angeschlossen, neben anderen z.B. das ehemalige Fürstentum Ostfriesland (das schon seit 1744 zu Preußen gehörte), die Grafschaft Bentheim, die Niedergrafschaft Lingen, die Plesse (die zu Hessen gehörte). Das geistliche Oberhaupt der Kirche in seinem Gebiet ist jetzt also auch für die reformiert geprägten Gebiete der lutherische hannoversche König; für das Lebensrecht der reformierten Gemeinden erst einmal nicht weiter problematisch, weil seit 1804 mehrere Konfessionen durchaus in einer Herrschaft nebeneinander existieren können. Aber es ergeben sich dann in der praktischen Durchführung doch Probleme. Zuständig für die Kirchen ist das "Königliche Ministerium der geistlichen Angelegenheiten." Und die in den weltlichen Staatsapparat integrierten Kirchenbehörden in den verschiedenen Landesteilen Hannovers sind auch für die Reformierten zuständig. Für Ostfriesland ist dies das sogenannte "Simultan-Konsistorium" in Aurich, das aber vor allem lutherisch besetzt ist. Für die Grafschaft Bentheim wird ein "Königlich-Großbrittanisch-Hannoverscher Ober-Kirchenrath" (hier also gibt es eine eigene Landeskirche mit eigenem Konsistorium) eingesetzt. Andere reformierte Gemeinden werden lutherischen Konsistorien unterstellt: die Niedergrafschaft Lingen dem in Osnabrück; das Herzogtum Bremen dem in Stade; die Herrschaft Plesse und das Amt Neuengleichen dem in Hannover. Abgesehen von der Grafschaft Bentheim und zum Teil Ostfriesland haben also die reformierten Gemeinden eine lutherische Kirchenleitung.
b) Der Weg zur Synode 1881
Überlegungen, die reformierten und lutherischen Gemeinden nach dem Vorbild der preußischen Union zu einer Kirche zu vereinigen, scheitern mehrfach am Einspruch der lutherischen Kirche. Gleichzeitig gibt es Bestrebungen, den Kirchen eine innere Ordnung zu geben. Im Jahre 1864 wurde eine für die lutherische Kirche geltende "Kirchenvorstands- und Synodalordnung" vom König bestätigt; die als Minderheit lebenden reformierten Gemeinden haben keine. Obwohl die reformierten Gemeinden verschiedenen kirchlichen Behörden unter- und eingeordnet sind, gibt es dennoch Bestrebungen, den Austausch untereinander zu fördern. Vor allem sind hier zu nennen die ab 1856 stattfindenden "Lingener Konferenzen" der "Prediger und Candidaten reformirter Confession im Königreich Hannover". Deren Ziel ist es von Anfang an, nicht nur eine innere Ordnung aller reformierten Gemeinden zu erreichen, sondern auch, eine eigene "evangelisch-reformirte Landeskirche neben der evangelisch-lutherischen" zu werden, wie es als Ergebnis der ersten Lingener Konferenz in einer Denkschrift beschlossen wird. Die an den König gesandte Denkschrift bleibt jedoch ohne Reaktion. 1866 wird Hannover preußische Provinz. Und damit wird die Frage auch wieder deutlicher, ob nicht im ehemaligen Königreich eine Union von lutherischer und reformierter Kirche wie in (Alt-)Preußen eingerichtet werden sollte. Innerhalb der Reformierten gibt es sowohl Stimmen, die dies vehement fordern, aber auch andere, die hier warnen. Für die preußische Regierung ist der status quo unbefriedigend. Einerseits ist eine Union möglich, aber hier gibt es deutliche Gegenstimmen aus lutherischen wie reformierten Kirchen. Andererseits ist die Unterstellung reformierter Gemeinde unter lutherische Konsistorien auf die Dauer nicht gut, weil es immer wieder Probleme und Streit gibt. Die Lingener Konferenz drängelt jetzt immer mehr, und schließlich lädt der preußische Minister für geistliche Angelegenheiten zu einer Vorsynode am 24./25. August 1880 nach Aurich ein. Damit ist das Startsignal gegeben. Auf dieser Vorsynode werden Regelungen für eine Synode beschlossen, Wahlbezirke eingeteilt und vor allem der Entwurf einer "Kirchengemeinde- und Synodalordnung" vorangetrieben.
Die außerordentliche Synode findet dann am 27. und 28. November 1881 ebenfalls in Aurich im Sitzungssaal der Ostfriesischen Landschaft statt. Es nehmen 33 gewählte und ernannte Mitglieder an der Synode teil; im Mittelpunkt der Verhandlungen steht der Entwurf der "Kirchengemeinde- und Synodalordnung". Als charakteristischer reformierter Grundsatz der ganzen Ordnung ist der Paragraph 2 zu nennen: "Die Kirchengemeinden verwalten ihre Angelegenheiten innerhalb der gesetzlichen Grenzen selbständig." Als gemeinsames Bekenntnis wird der Heidelberger Katechismus eingeführt. Die Synode nimmt die "Kirchengemeinde- und Synodalordnung" einstimmig an. Damit ist eine Neuordnung der Kirchen im ehemaligen Königreich Hannover seitens der reformierten Gemeinden vorbereitet: ein eigenes Konsistorium, dem alle reformierten Gemeinden zugeordnet sind, bildet das Bindeglied zwischen Landesherrn und Gemeinden. Denn völlig selbständig war die Kirche weiterhin nicht: Sie blieb dem König untertan. Und er ist es dann auch, der im Erlaß vom 10. April 1882 eben diese auf der Synode beschlossene Ordnung genehmigt und in Kraft setzt. Das neue reformierte Konsistorium hat seinen Sitz in Aurich. Zur "ev.-ref. Kirche in der Provinz Hannover" gehören 1882 die reformierten Gemeinden aus Ostfriesland, der Grafschaft Bentheim, der Niedergrafschaft Lingen, des Herzogtums Bremens und des Amtes Bederkesa, der Herrschaft Plesse und des Amtes Neuengleichen. Nicht in die "Ev.-ref. Kirche der Provinz Hannover" integriert sind die reformierten Gemeinden in Hannover, Altona, Hannoversch-Münden, Göttingen, Celle, Bückeburg-Stadthagen und Braunschweig; sie bilden die seit 1703 bestehende "Niedersächsischen Konföderation", eine Vereinigung von vor allem aus der hugenottischen Tradition stammenden Gemeinden.